Es ist ein grauer Novembertag, als ich in Frankfurt in den Finnair-Flieger steige. Destination: Helsinki. Na klar, was sonst? Aber an diesem Tag verspüre ich beim Einsteigen ein noch heftigeres Kribbeln als sonst immer. Heute ist der Tag, an dem die finnische Fußballnationalmannschaft Geschichte schreiben soll. Finnland zur EM? Heute soll dieser Traum von Generationen Wirklichkeit werden. Und ich würde hautnah im Stadion mit dabei sein bei diesen historischen Momenten. Finnland spielt gegen Liechtenstein. Was kann da schon noch schief gehen?
Fährt Finnland zur EM in der Nacht von Helsinki?
Wer die finnische Fußballnationalmannschaft kennt und über die Jahrzehnte hinweg mitverfolgt hat wie ich, der weiß, dass selbst in dieser komfortablen Ausgangslage eine gewisse Skepsis angesagt ist. Ich erinnere mich an das unsägliche WM-Qualifikationsspiel im Jahr 1997 im Olympiastadion, als die Finnen sich in der Nachspielzeit im Dauerregen den Ball selbst ins eigene Netz stolperten – Ausgleich für Ungarn. Ein Sieg hätte Finnland zumindest in die Play-Offs zu einem großen Turnier gebracht. Welch ein Trauma bis heute! Ich versuche die Gedanken an diese wohl finsterste Stunde des finnischen Fußballs zu verdrängen…
Fanmarsch vom Kamppi zum Stadion
Das gelingt ganz gut, denn in Helsinki scheint bei meiner Ankunft tatsächlich die Sonne. Ich steige am Flughafen in die Bahn und fahre in die Stadt. Am Hauptbahnhof begegnen mir direkt zahlreiche Menschen in Finnland-Trikots und mit blau-weißen Schals. Hier liegt heute etwas in der Luft und der Fußball elektrisiert die finnische Hauptstadt wie vielleicht noch niemals zuvor. Am Kamppi treffen sich die Fans und werden von einem Capo eingepeitscht, während ich Journalistenkollegen von YLE ein Interview geben darf. Ich treffe meinen Kumpel Torsten, der in Espoo lebt und mir ein „Karhu“ reicht, und den finnlandverrückten Schweden RuotsiCalle.
Kurz darauf setzt sich der größte Fanmarsch der finnischen Fußballgeschichte von der Innenstadt in Richtung Stadion in Bewegung. Finnland zur EM? Das ist für die meisten, die hier mitlaufen, bereits beschlossene Sache. Die Stimmung ist für finnische Verhältnisse mehr als ausgelassen, es wird getanzt und gesungen. Immer wieder erhellen bengalische Feuer und Leuchtraketen den mittlerweile dunklen Abendhimmel. Hier wird heute Geschichte geschrieben.
Premiumsicht in der ersten Halbzeit
Im Stadion angekommen, suche ich nach meinem Platz auf der Pressetribüne. Ich darf über diesen historischen Abend nicht nur bei FinnTouch berichten, sondern auch für das beliebte deutsche Fußballmagazin 11FREUNDE einen Beitrag schreiben (dieser ist inzwischen leider nicht mehr online verfügbar). Welch eine Ehre! Und meine freudige Überraschung ist umso größer, als ich feststelle, dass mir einer der besten Plätze im Stadion zugewiesen wurde. Während sich andere Journalisten aufgrund des riesigen Andrangs auf ganz normalen Sitzplätzen dicht an dicht drängen, hat der finnische Fußballverband mir einen eigenen Arbeitsplatz mit Tisch und Steckdosen zugeteilt. Und Premiumsicht aufs Spielfeld. Wow!
Schon bei den Nationalhymnen habe ich das Gefühl, dass das ganze Stadion noch ein bisschen lauter mitsingt als sonst. Die sonst gerade beim Fußball eher pessimistisch eingestellten Finnen glauben an ihren Traum. Das ist deutlich zu spüren. Und die Gänsehautatmosphäre im Stadion überträgt sich auf das Spielfeld. Jasse Tuominen, international eher unbekannter Stürmer der Finnen, drückt den Ball zum 1:0 über die Torlinie. Jubel. Frenetische Anfeuerungsrufe schallen durch das weite Rund und peitschen die Mannschaft weiter nach vorne. Zur Pause bleibt es dennoch bei dem knappen Vorsprung.
Ab in die Fankurve in Halbzeit zwei
Für die zweite Halbzeit habe ich einen Perspektivwechsel geplant und überlasse meinen Platz auf der Pressetribüne dem YLE-Kollegen, der mich wenige Stunden vorher noch interviewt hatte. Mich zieht es nun in die Fankurve, zu welcher mir der Fanclub der Nationalmannschaft freundlicherweise Zutritt verschafft hat. Ich hole mir ein Bier und stürze mich ins Getümmel. Die Stimmung ist ausgelassen – und wird noch etwas ausgelassener, als Stürmerstar Teemu Pukki zum 2:0 vollendet und später noch das 3:0 draufsetzt. Das Spiel ist gelaufen. Liechtenstein geschlagen. Finnland zur EM, es ist nun nicht mehr nur ein Traum. Es ist Wirklichkeit geworden, als der Schiedsrichter schließlich abpfeift.
Ausnahmezustand auf dem Spielfeld und in der City
Die ersten Fans stürmen den Kunstrasen der Telia 5G Areena und zu diesem Zeitpunkt ist klar, dass kein Ordner sie trotz anders lautender Anweisungen vorab aufhalten wird. Ich stehe erstmal einfach nur da und kann es noch nicht so richtig fassen. Ein paar Tränchen stehen mir in den Augen. Auf diesen einen Moment habe ich gewartet, seit ich ein kleiner Junge war! Und wenn ich mich umschaue, scheine ich nicht der einzige zu sein, dem es so ging. Ältere Männer stehen ungläubig da und weinen vor Glück. Kleine Jungs versuchen zu verstehen, was da gerade passiert. Dann sind wir alle auf dem Spielfeld. Es wird gemeinsam mit den Spielern gefeiert – absolut friedlich, aber ausgelassen.
Schließlich zieht die Karawane der Feiernden weiter in Richtung City. „Torilla tavataan“ – „Treffen wir uns auf dem Marktplatz“ lautet in Finnland das Motto, wenn es etwas Großes zu feiern gibt. Meistens sind das Eishockey-Weltmeisterschaften, aber heute erobert König Fußball endgültig die Herzen der Finnen. Finnland zur EM, es ist geschafft! Rund um die Statue Havis Amanda gruppieren sich unzählige Menschen aller Altersgruppen und lassen es so richtig krachen. RuotsiCalle und ich sind mittendrin und saugen die Atmosphäre auf. Ja, es ist „nur“ Fußball. Und doch gelingt es diesem Sport, in dieser Nacht ein ganzes Land glücklich zu machen. Diese Emotionen lassen sich in Worten nicht beschreiben. Umso dankbarer bin ich, dass ich den wichtigsten Tag der finnischen Fußballgeschichte live und in Farbe miterleben durfte. Ein Tag, den ich niemals vergessen und von dem ich noch meinen Enkeln berichten werde.
Abschluss bei der offiziellen „Pukki-Party“
Nachdem sich RuotsiCalle verabschiedet hat, zieht es mich zum Abschluss noch zur offiziellen „Pukki-Party“ im Apollo Live Club. Diese hat der britische Premier-League-Club Norwich City, Arbeitgeber des Ex-Schalkers Teemu Pukki, zu dessen Ehren organisiert. Der Türsteher schaut mich streng an: „Du weißt schon, wie spät es ist und dass hier gleich Feierabend ist? Wir lassen hier keinen mehr rein“. Ich erkläre ihm, dass ich extra aus Deutschland angereist bin nur für diese eine Nacht und dieses eine Spiel und… weiter komme ich nicht. Der Bär von einem Mann nickt mir freundlich zu und sagt „Rein mit Dir, hab noch ein bisschen Spaß“.
Ein wenig platt, aber umso glücklicher sitze ich ein paar Stunden später im Flieger zurück nach Deutschland. Im nächsten Jahr muss ich zusammen mit Finnland zur EM, denke ich mir, bevor ich selig einschlummere. In diesem Moment weiß ich weder, dass ich tatsächlich ein Ticket für eines der Spiele ergattern würde – noch, dass das gesamte Turnier wegen Corona um ein Jahr verschoben wird. Doch dieses eine Jahr Wartezeit halten wir jetzt auch noch locker aus. Und dann leben wir den Traum von Generationen.
Glaubst Du, die finnische Fußballnationalmannschaft hat eine Chance, bei der Europameisterschaft ähnlich wie einst die Isländer zu einem Überraschungsteam zu mutieren? Verrate mir Deine Einschätzung gerne über das Kommentarfeld weiter unten!